Sonntag, 5. April 2020

Alexander Osang: „Die Leben der Elena Silber“


S. Fischer, 2019, 617 S.

Der Roman beschreibt die bewegte Lebensgeschichte von Elena Silber, im vorrevolutionären Russland geboren und kurz vor Ende des Sozialismus in der DDR gestorben, sowie die Versuche ihres Enkels Konstantin Stein, die ungelösten Fragen in ihrer und seiner Familiengeschichte aufzuklären. Elena Silber wird Anfang des 20. Jahrhunderts geboren; ihr Vater, Anhänger der Sozialisten, wird 1905 von einem reaktionären Mob getötet. Damit beginnt eine Geschichte von Vertreibung, Flucht und Suche nach besseren Lebensmöglichkeiten. Elena heiratet einen deutschen Ingenieur und landet dadurch in NS-Deutschland; nach dem Krieg bleibt sie in Berlin hängen, wo sie 1982 stirbt. Ihr Enkel Konstantin, Anfang vierzig, geschieden, Filmemacher, wird von seiner dominanten Mutter (einer von Elenas fünf Töchtern) dazu bewegt, Elenas Lebensgeschichte zu erforschen, in dem es ungelöste Widersprüche gibt, besonders um das Verschwinden ihres Mannes nach Kriegsende. Laut Klappentext wurde der Roman von der Familiengeschichte seines Verfassers inspiriert.

Der Roman wird mit vielen Rückblenden mal aus der Sicht Elenas, mal aus der Sicht Konstantins erzählt. Abgesehen von den Rückblenden ist der Erzählstil geradlinig und gut lesbar. An vielen Stellen, besonders wenn aus der Sicht von Konstantin geschrieben, wird sie vom Dialog vorangetrieben. Die Stellen aus Elenas Sicht wirken oft distanziert, wie angelesen, und Elenas Persönlichkeit bleibt fern und verschwommen. Das trifft vor allem auf die Stellen zu, die ihr Leben in Russland beschreiben, während ihr Leben in Schlesien kurz vor und nach Kriegsende und die Jahre in Berlin lebendiger beschrieben ist, so, als wenn die größere geografische Nähe auch eine größere Nähe zur Person bewirkt. Konstantin dagegen und seine Welt gewinnen ein sehr viel klareres Profil; man merkt, dass der Verfasser die Welt, die er beschreibt – Konstantins Kindheit, die dominante Mutter, die Demenz des Vaters, die Beziehung zum Sohn aus der geschiedenen Ehe, die verschiedenen Ostberliner Milieus, in denen Konstantin sich bewegt – gut kennt.

Insgesamt ein gut lesbares Buch. Die russischen Elemente bieten eine gewisse Exotik, aber wirken oberflächlich auf jemanden, der eine gewisse Vertrautheit mit Russland mitbringt. Interessanter ist es als Teil eines großen Mosaiks, als ein weiterer Blick auf vertraute Fragen – was bedeutet Familie, wie gehen Menschen mit Beziehungen um, in welchen Formen suchen sie nach Nähe und Distanz, nach Liebe, Anerkennung, wo ist Heimat, was für Geschichten erzählen sie sich selbst und anderen. Dieser Roman ist ein weiteres Steinchen in diesem Mosaik, und dabei ein unterhaltsames, auch wenn nie wirklich aufgeklärt wird, was aus den verschwundenen Männern in der Familie der Silbers geworden ist.

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