S. Fischer, 2019, 617 S.
Der Roman beschreibt die bewegte Lebensgeschichte
von Elena Silber, im vorrevolutionären Russland geboren und kurz vor Ende des
Sozialismus in der DDR gestorben, sowie die Versuche ihres Enkels Konstantin
Stein, die ungelösten Fragen in ihrer und seiner Familiengeschichte aufzuklären.
Elena Silber wird Anfang des 20. Jahrhunderts geboren; ihr Vater, Anhänger der Sozialisten,
wird 1905 von einem reaktionären Mob getötet. Damit beginnt eine Geschichte von
Vertreibung, Flucht und Suche nach besseren Lebensmöglichkeiten. Elena heiratet
einen deutschen Ingenieur und landet dadurch in NS-Deutschland; nach dem Krieg
bleibt sie in Berlin hängen, wo sie 1982 stirbt. Ihr Enkel Konstantin, Anfang
vierzig, geschieden, Filmemacher, wird von seiner dominanten Mutter (einer von
Elenas fünf Töchtern) dazu bewegt, Elenas Lebensgeschichte zu erforschen, in
dem es ungelöste Widersprüche gibt, besonders um das Verschwinden ihres Mannes
nach Kriegsende. Laut Klappentext wurde der Roman von der Familiengeschichte
seines Verfassers inspiriert.
Der Roman wird mit vielen Rückblenden mal aus
der Sicht Elenas, mal aus der Sicht Konstantins erzählt. Abgesehen von den
Rückblenden ist der Erzählstil geradlinig und gut lesbar. An vielen Stellen,
besonders wenn aus der Sicht von Konstantin geschrieben, wird sie vom Dialog
vorangetrieben. Die Stellen aus Elenas Sicht wirken oft distanziert, wie
angelesen, und Elenas Persönlichkeit bleibt fern und verschwommen. Das trifft vor
allem auf die Stellen zu, die ihr Leben in Russland beschreiben, während ihr
Leben in Schlesien kurz vor und nach Kriegsende und die Jahre in Berlin
lebendiger beschrieben ist, so, als wenn die größere geografische Nähe auch
eine größere Nähe zur Person bewirkt. Konstantin dagegen und seine Welt gewinnen
ein sehr viel klareres Profil; man merkt, dass der Verfasser die Welt, die er
beschreibt – Konstantins Kindheit, die dominante Mutter, die Demenz des Vaters, die
Beziehung zum Sohn aus der geschiedenen Ehe, die verschiedenen Ostberliner
Milieus, in denen Konstantin sich bewegt – gut kennt.
Insgesamt ein gut lesbares Buch. Die
russischen Elemente bieten eine gewisse Exotik, aber wirken oberflächlich auf jemanden,
der eine gewisse Vertrautheit mit Russland mitbringt. Interessanter ist es als
Teil eines großen Mosaiks, als ein weiterer Blick auf vertraute Fragen – was bedeutet
Familie, wie gehen Menschen mit Beziehungen um, in welchen Formen suchen sie
nach Nähe und Distanz, nach Liebe, Anerkennung, wo ist Heimat, was für
Geschichten erzählen sie sich selbst und anderen. Dieser Roman ist ein weiteres
Steinchen in diesem Mosaik, und dabei ein unterhaltsames, auch wenn nie wirklich
aufgeklärt wird, was aus den verschwundenen Männern in der Familie der Silbers geworden
ist.